Sie haben Hammer und Sichel, Stalin und Breschnew überdauert: die konstruktivistischen Bauten in Russland. Um sie herum verändern sich die Stadtlandschaften – sie aber bleiben unerschütterliche Zeugen einer spannenden Bauepoche.
Auf meiner Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn im Sommer 2019 habe ich mich in verschiedenen russischen Städten mit architektonischen Zeitzeugen aus unterschiedlichen Epochen auseinandergesetzt. Speziell aufgefallen sind mir die Bauten aus der Zeit des Konstruktivismus.
Demokratischer Aufbruch und neue Sachlichkeit.
Der Konstruktivismus entstand um 1913 in Russland. Als gegenstandslose Stilrichtung hatte er für die konkrete und abstrakte Kunst eine grosse Bedeutung – beispielsweise für den Maler Kasimir Malewitsch („Das schwarze Quadrat“). Die Bauwerke des Konstruktivismus sind von schlichten Formen geprägt. Die Gestaltungselemente sind einfache geometrische Formen, und im Gegensatz zur hergebrachten Architektur stehen funktionelle Elemente im Vordergrund. Zugunsten der Sachlichkeit wurde bewusst auf Luxus verzichtet. Die Architekten organisierten sich in Gruppen mit unterschiedlichen Richtungen und Zielvorstellungen zum Thema Konstruktivismus (z. B. Rationalismus). Die Zirkel waren oft heftig zerstritten.
Die konstruktivistischen Bauwerke spiegeln die – zunächst – demokratische gesellschaftliche Entwicklung einer bewegten Epoche wider. Sie bilden die Grundlage für die späteren Bauten der Moderne in vielen Ländern. Neben Büros, Banken und Kulturinstitutionen entstanden auch Wohngebäude für die Eliten und für die Werktätigen.
Was bleibt? Erstaunlich viel.
In den 1930er-Jahren wurde die konstruktivistische Architektur durch klassizistische Bauten mit Prunkelementen abgelöst (Herr Stalin lässt grüssen). Heute entdeckt man aber nach wie vor etliche im Originalzustand erhaltene konstruktivistische Gebäude, oft weisen sie überdies die ursprüngliche Nutzung auf. Einzig die unmittelbare Umgebung hat sich teilweise verändert – bedingt durch die Entwicklung der Stadt und der Gesellschaft. Einige wenige Gebäude sind mit baugeschichtlichem Verständnis saniert und zumindest an der Gebäudehülle nicht wesentlich verändert worden. Das ist erfreulich: Denn dadurch bleiben die Gebäude als Zeitzeugen für einen spannenden Abschnitt der Architekturgeschichte im Stadtgefüge erhalten.
Renate Leu